„Dir glaube ich gar nix!“

– Oder, wie mit einer neuen Perspektive auch nach 50 Jahren Ruhe einkehren darf –

 

 

„Entwicklung findet statt,

wenn die Vergangenheit vorbei sein darf“

 

Bert Hellinger

– Verdeckte Aufstellung – An unserem Eifel-Wochenende im Oktober 2023 hatten wir so viel mehr Raum, uns um unsere Anliegen zu kümmern. In der Arbeit von Claudia spürten wir ihrer Frage nach, die aus ihrer Kindheit in den frühen 60er-Jahren stammt – die sie bis heute belastet und ihr Leben beeinflusst. Die Aufstellung zeigte, worum es in dem Moment ging und die anschließende „Runde der Weisen“ führte mit neuen Perspektiven zu einem veränderten Bild, dass das Verstehen mit sich bringt. Nun kann Ruhe einkehren – nach über 50 Jahren.

Die verdeckte Aufstellung
Nachdem Claudia blind vier Matten aus dem Stapel gezogen und sie eine nach der anderen ‚nur für sich‘ mit den Personen aus ihrem inneren Bild besetzte hatte, suchten sich die Stellvertreter mit ihren farbigen Platzhaltern einen Platz im morphischen Feld des Raumes und es ergab sich folgendes Bild: Eine weiße Matte stand etwas entfernt mittig gegenüber von Blau und Rot, die sich nebeneinander aufgestellt hatten. Die vierte Matte (Hellblau) stand eher abseits der Situation, freundlich der alleinstehenden Weißen zugewandt. 
Beim Blick in alle freundlichen Augen der Stellvertreter stieg Wut in Weiß auf, besonders gegen Blau. Weiß sagte zu Blau: „Dir glaube ich gar nix!“ Aber auch Rot ließ in der weißen Matte Ärger aufsteigen, bis Rot liebevoll erwiderte: „Komm doch mal her zu mir und schau mich doch mal an.“ Dies veranlasste Weiß dazu, sich Rot direkt gegenüberzustellen und sie erkannte in Weiß eine liebevolle Zuneigung. Das beruhigte Weiß und sie ging wieder zurück zu ihrem Ausgangspunkt – gleiche Entfernung wie zuvor, allerdings direkt gegenüber Blau. Weiß schaute Blau in die Augen, wieder wurde Weiß böse auf Blau und sagte: „Ich bin klein, Du bist groß und Dir glaube ich gar nix!“
Dies verärgerte nun auch Blau und sagte: „Plustere Dich nicht so auf. Du bist ja groß! Bleibe in Deiner Größe.“
Mehr passierte an dieser Stelle der Aufstellung nicht. Niemand wollte sich mehr bewegen oder etwas tun. Nach der verdeckten Aufstellung ging jede*r Stellvertreter*in zurück in den Kreis.

Die Auflösung
Claudia zählte auf, welche Personen ihre Stellvertreter darstellten: Weiß war sie selbst, Blau der Vater, Rot die Großmutter, Hellblau der Großvater. Anschließend teilte sie mit uns ihre Geschichte: Claudia hat das Gefühl, seinerzeit etwas Dramatisches oder gar Traumatisches erlebt zu haben, was sie bis heute nicht loslässt. Es war Ende der 60er-Jahre, als Claudias Mutter kurz vor der Geburt ihrer Schwester mit einer Schwangerschaftsgestose ins Krankenhaus kam. Claudia war anderthalb Jahre alt und die Großeltern väterlicherseits, die das Kind bisher noch nicht kennengelernt hatte, kamen mit ihren 90 Jahren zu ihr nach Hause und unterstützten ihren Sohn und Claudias Vater dabei, sich um das kleine Mädchen zu kümmern. Dies hatte sie später erfahren.

Claudias Frage: „Was passierte Schreckliches mit mir, während meine Mutter im Krankenhaus war und die Geburt meiner Schwester erwartete?“

„Die Runde der Weisen“
Die Aufstellung zeigte, dass Großmutter und Großvater Claudia liebevoll zugewandt zu sein schienen. Doch es gab einen Disput zwischen Vater und Tochter. „Ich glaube Dir nichts!“, hatte die Tochter in der verdeckten Aufstellung zu dem Vater gesagt. Als die Mutter ins Krankenhaus gekommen war, tauchte bei dem Kind die größte Angst auf: Die Mutter war gegangen und kommt nicht mehr wieder! „Wir müssen bedenken“, erklärte die anwesende Geburtshelferin und Ärztin, „dass die Schwangerschaftsgestose in den 60er-Jahren die Großeltern und den Vater vermutlich selbst in Angst und Schrecken versetzte, die das Kind zusätzlich verspürte. Denn Wassereinlagerungen mit rasend hohem Blutdruck kann Lebensgefahr für Mutter und Kind bedeuten und macht zu einem bestimmten Zeitpunkt eine sofortige Entbindung erforderlich.“ Vermutlich wollte der Vater seine Tochter einfach nur beruhigen, in dem er versprach, dass die Mutter bald wieder heimkommen würde. Dabei blieb unerkannt, welche große Angst um die schwangere Mutter und ihr ungeborenes Kind im Raum stand und im System spürbar war. Das kleine Mädchen musste diese Angst gefühlt haben, konnte sie aber natürlich nicht verstehen oder einordnen. Die Aussagen ‚Alles wird gut! ‘ und ‚Mama kommt bald wieder nach Hause‘ waren für die Kinderseele nicht glaubwürdig. Was blieb, war der Eindruck, hier ist etwas Schreckliches passiert! Claudias Mutter saß während der Aufstellung im Stuhlkreis und berichtete, dass sie, Jahrgang 1938, im 2. Weltkrieg mit ihrer Familie aus Schlesien geflüchtet sei. Ihre eigene Mutter hatte ihr damals sehr eindringlich vermittelt: „Wir müssen alle unbedingt nah beieinanderbleiben! Wir dürfen uns nicht verloren gehen! Wir müssen zusammenbleiben und zusammenhalten, sonst überleben wir nicht!“ Diese Sätze hatte Claudias Mutter verinnerlicht – nicht nur für den Moment, sondern für ihr ganzes Leben – und Claudia hat diese Aussagen unbewusst übernommen: Abwesenheit bedeutet Tod oder zumindest ‚weg für immer‘.

Das Ende der Geschichte
Mit dem Blick auf die Situation von damals erkennt man: Es handelt sich um eine Alltagssituation, in der die Erwachsenen das Kind und dessen Panik nicht wahrgenommen haben. Der Vater wusste vermutlich selbst nicht, mit der Situation und mit der ‚sich selbst nicht bewusst gemachten Angst um Frau und Baby‘ umzugehen. Gefangen in seiner eigenen Angst hat er die maximale Not des Kindes nicht wahrgenommen.
Vielleicht war das Kind damals unerträglich? Vielleicht hat es geweint? Vielleicht hat es geschrien? Auf alle Fälle hat es, um Aufmerksamkeit heischend, einen Ausdruck an den Tag gelegt, der die Erwachsenen mindestens verunsichert, vielleicht sogar verärgert hat. Und dann der familiäre Glaubenssatz: ‚Wir müssen zusammenbleiben, sonst überleben wir das nicht! ‘ 
Es geht hier in der Aufstellung nicht um richtig oder falsch. Hier geht es ausschließlich um das Gefühl eines Kindes, das bis heute – 50 Jahre später – Bestand hat und das Leben beeinflusst. Etwas körperlich Verletzendes, wie von Claudia anfangs vielleicht befürchtet, war in der verdeckten Aufstellung nicht zu erkennen. Dennoch war deutlich zu sehen und zu spüren, wie traumatisierend die Situation für das Kind wahr: Einerseits, weil es etwas anderes fühle, als kommuniziert wurde und die Erwachsenen nicht adäquat regieren konnten. Andererseits, weil es einen dramatischen familiären Glaubenssatz gibt, den es mit Glaubenssatzarbeit aufzulösen gilt.

Feedback von Claudia, ein Tag nach dem Seminar:
„Bei meiner Aufstellung erhoffe ich mir sehr viel Beruhigung für die Zukunft, denn das war für mich immer ungeklärt. Jetzt habe ich das Gefühl: Es ist geklärt und damit fühle ich mich einfach so viel besser.“ 

Danke für Dein Vertrauen, liebe Claudia!

Wichtige Anmerkung: Unsere verdeckten Aufstellungen sind für Menschen mit einer gesunden Selbsteinschätzung und kein Therapie-Ersatz. Nehmen Angst und Schuldgefühl überhand, können sie schädlich sein und professionelle Unterstützung erforderlich machen.

 

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Erst wenn das Samenkorn nicht mehr daran festhält zu bleiben, was es ist, kann es werden, was es sein soll: eine Pflanze.
Erst wenn die Raupe stirbt, wird der Schmetterling geboren.
Das Spiel des Lebens beruht auf ständiger Transformation, die nur durch Loslassen und Hingabe möglich wird 

 

Professor Kurt Tepperwein

 

– Feedback –

Dankedankedanke, liebe Herzensmenschen!