So sieht Verzweiflung aus
„Was vergangen ist, ist vergangen,
und du weißt nicht, was die Zukunft dir bringen mag.
Aber das Hier und Jetzt, das gehört dir.“
Aus „Der Kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry
– Verdeckte Aufstellung: Wir fuhren auf der Autobahn, als ich die Stille bemerkte. Lediglich die vorbeirasenden Autos übertönten die Ruhe, die im Wagen herrschte. Ich drehte mich zum Beifahrersitz und beobachtete Fiona, die gedankenverloren aus dem Fenster sah. „Was ist los?“, fragte ich irritiert. Meine Tochter schaute immer noch raus – und sagte nichts. Spätestens jetzt war meine Aufmerksamkeit nicht mehr auf der Straße. Nach einer weiteren längeren Pause zuckte sie mit den Schultern – immer mit Blick auf die vorbeihuschenden Leitplanken. „Was, wenn ich alles falsch mache?“ Sie starrte mich jetzt von der Seite an, ihr sorgenvoller Blick berührte mich.
Wir waren auf dem Weg nach Nippes. Während ich mich seit zwanzig Jahren alle vier Wochen mit einer Gruppe von Herzensmenschen zur verdeckten Aufstellung traf, hatte Fiona bisher nur in meinen Erzählungen davon gehört. Diesmal begleitete sie mich zum ersten Mal und Fiona war angespannt bis zu den Fingerspitzen – kerzengerade saß sie auf dem Beifahrersitz. „Mama, was mache ich, wenn ich nicht mehr weiß, wie die alle heißen? Was, wenn ich in der Aufstellung alles vergessen habe? Was, wenn ich gar nichts fühle? Was, wenn ich einfach überhaupt nicht weiß, was ich sagen soll?“ Die Fragen sprudelten förmlich aus ihr heraus, sie fügte an: „Und überhaupt – wenn ich da was falsch mache, ist es nicht nur für mich megapeinlich…“. Ihr Blick war jetzt richtig eindringlich, „– sondern auch für Dich!“ Ihre Verzweiflung berührte mich. Ich legte den Kopf schief, mit Blick auf die Straße: „Aber Schatzli, Du weißt es doch – falsch gibt es nicht. Alles ist richtig! Als erstes entscheidest Du selbst, ob du Stellvertreterin sein magst oder nicht. Vielleicht magst Du auch beim ersten Mal nur zuschauen? Und zweitens: Alles, was Du auf Deinem Platz spürst ist immer richtig und das teilst Du mit uns. Mehr nicht.“ „Ja, aber was ist, wenn ich gar nichts spüre?“ Fionas Oberkörper war nun ziemlich nach vorn gebeugt. Dies unterstrich die Eindringlichkeit. „Dann ist auch das richtig!“, sagte ich sanft. Meine rechte Hand suchte ihren linken Arm. Sie schüttelte ihren Kopf, wie, als würde sie die Gedanken rausschleudern wollen. Die Situation entspannte sich.
„Familie ist, wo Leben beginnt und Liebe niemals endet“
Autor*in unbekannt
In Nippes angekommen verflog Fionas Unsicherheit ganz fix. Denn Jede*r einzelne freute sich und hieß sie herzlich willkommen. Bei einer der nächsten Aufstellungen meldete sie sich, um sich als Stellvertreterin zur Verfügung zu stellen. Sie wurde von der Aufstellerin ausgewählt, die Stellvertreterrolle in ihrem Anliegen zu übernehmen. Anne war relativ neu in der Gruppe. Außer ihr selbst, wusste niemand, worum es geht – wie immer. Jede*r folgt der Intuition, dem Bauch, dem Gefühl. Draußen war es immer noch taghell, daher muss es wohl Sommer gewesen sein. Jedenfalls strahlte die Sonne in den schönen Raum, als Fiona – nach ein paar Minuten des Einfühlens – auf ihrem Platz merklich unruhig wurde. Während sich alle anderen auf ihrer Position einfanden und Entspannung ausstrahlten, ging von meiner Tochter eine spürbare Unruhe aus. Sie drehte sich, fühlte in sich ein, drehte sich weiter, spührte wieder nach. Sie drehte sich auf ihrem gelben DIN-A-4förmigen Platzhalter im Kreis – immer weiter und weiter.
„Was ist mit Dir?“, fragte ich. Nun drehte sie sich zu mir um. Es schien, als stampfe sie mit den Füßen auf dem Boden auf, als sie sagte: „So Mama, jetzt isses genauso, wie ich es befürchtet habe!“ Ihr verzweifelter Blick traf meinen. Sie hob fragend beide Hände hoch. „Ich sollte jetzt was sagen – aber ich weiß nicht, was! Ich sollte jetzt wissen, wie die hier alle heißen – aber ich habe keine Ahnung.“
Vor meinem inneren Auge erschien das Bild, als Fiona vor ein paar Minuten die gleichen Leute im Raum fröhlich mit Namen begrüßt hatte. „Irgendwas wird hier von mir erwartet, aber ich weiß einfach überhaupt nicht, was!“ Fiona wurde lauter: „Ich soll hier jetzt etwas tun, aber ich habe vollkommen vergessen, was das sein soll!“ Meine Tochter wirkte völlig aufgelöst. Sie hob fragend die Achseln bis an die Schultern und ruderten mit den Armen hilfesuchend umher. „Kannst Du für Anne jetzt in der Rolle bleiben, ober müssen wir dich da rausholen?“ Die Option schien sie zu beruhigen und Fiona konnte sich sammeln. Ich fragte sie, ob sie wüsste, was ihr helfen könnte? Sie überlegte kurz und nickte. Ich bat sie, das Thema für sich zu behalten und es mit einem Platzhalter dorthin zu legen, wo es gebraucht würde. Sie brauchte zwei Platzhalter: Eines neben sich selbst und eines neben die Stellvertreterin, die Fiona gegenüberstand.
Damit kehrte Ruhe ein. Und zwar in der ganzen Runde: Bei Fiona, allen Stellvertreter*innen und allen Zuschauer*innen – die Lage entspannte sich zusehends. Mehr konnte man hier nicht tun. An dieser Stelle beendete ich die ziemlich kurze Aufstellung. Alle setzten sich zurück auf ihren Platz in der Runde – alle Augenpaare waren auf Anne gerichtet. Jede*r wollte jetzt nur noch wissen, was da vor sich gegangen war. Was war das, was wir hier alle gerade mitverfolgen konnten? „Tja, was soll ich sagen?“ Anne rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Tränen kullerten ihre Wangen herunter. In dem Moment erinnerte ich mich daran, dass sich Fiona ja einen Wunsch für sich frei hatte. Bevor also Anne zu erzählen begann, fragte ich sie, was denn die beiden Themen gewesen sind, die ihre eigene Situation verbesserte, die von ihrem Gegenüber und nebenbei in der gesamten Runde für Ruhe sorgte. Fiona zuckte mit den Schultern und sagte: „Hilfe – mir ist nichts Besseres eingefallen. Beide Platzhalter, der neben mir und neben meinem Gegenüber, waren Hilfe und/oder Unterstützung – mehr nicht.“
Pu zu Christopher Robin: „Versprich mir, dass du mich nie vergessen wirst, denn wenn ich das denke, werde ich nie gehen.“
Alan Alexander Milne
Fiona saß mittlerweile vollkommen entspannt auf ihrem Platz, die Unruhe war wie weggeblasen. Nun waren wir alle richtig gespannt: Was war denn nun Annes Anliegen? Sie holte tief Luft, wischte die Tränen von den Wangen und schaute nickend zu meiner Tochter herüber. „Ja, krass!“, sagte sie und atmete schwer. „Als erstes möchte ich Dir danken, Fiona!“ Wir nun alle mit gekräuselter Stirn zu Anne – damit hatten wir nicht gerechnet. „Ja, das meine ich vollkommen ernst!“ Annes Stimme wurde sachlich. „Es ist absolut unglaublich, aber genauso ist es!“ Im Raum hätte man eine Stecknadel fallen hören können. „Fiona hat meinen Vater dargestellt. Und die Stellvertreterin gegenüber von Fiona, das war ich!“ Anne machte eine Pause und fuhr langsam fort, ihre Stimme war nun ganz leise. „Mein Vater hat Alzheimer. Oft ist er völlig verzweifelt, weil er nicht mehr weiß, was er machen sollte oder wollte. Manchmal fragt mich mein Vater sogar, wer ich selber bin. Die Situation ist also exakt so, wie Fiona sie dargestellt hat.“ Nach der Aufstellung hat Anne nicht nur Hilfe für ihren Vater gesucht und gefunden, sondern auch für sich selbst. Und Fiona weiß, alles ist richtig.
Immer wieder: Danke Fiona!
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